Ohne Lesefähigkeit geht es nicht, heute nicht im digitalen Zeitalter, damals nicht im Betriebsalltag im Postcheckamt der PTT an der Claridenstrasse in Zürich bei der Addition und Prüfung von Geldanweisungen. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Milou Steiner, Walter Scheiwiller)

Es war vielleicht die pointierteste Aussage an der zweiten Nationalen Nachrichtenkompetenz-Tagung, die am Freitag (21. März 2025) an der ZHAW in Winterthur vom Verein UseTheNews in Zusammenarbeit mit dem Institut für Angewandte Medienwissenschaften (IAM) durchgeführt wurde: Auf die Frage, wie er denn als TikTok- und Instagram-Star mit Millionen von Followern die Wirkung sozialer Medien gerade auf Jugendliche einschätze, antwortete der frühere Musik- und Sportlehrer Jodok Vuille alias «Jodokcello» in erfrischender Offenheit: «Kein Handy bis 12 – und geht in die Natur und pflegt Freundschaften!» Er selbst sei bereits Opfer geworden, durch fake accounts, «falsche» Jodokcellos, die in seinem Namen ahnungslose Fans zu ködern versuchten. Er habe dadurch gelernt, extrem vorsichtig zu agieren und zurückhaltend zu bleiben mit Privatem.

YouTube ist «lame»

Der aus dem Emmental stammende Lehrer hatte zuvor von seinem kometenhaften Aufstieg als Cellist dank den sozialen Medien berichtet – wobei ihm seine Schüler:innen zu TikTok und Instagram geraten hätten, nachdem er zunächst nur auf YouTube unterwegs gewesen sei. Das sei «lame» – er solle von der Horizontalen in die Vertikale wechseln.

Heute kann er von seinen Posts leben, die auch einmal atemberaubende 86 Millionen Views generieren können. Seinen Erfolg sei harte Arbeit, erläuterte der Künstler. Und das Resultat der selbst gemachten Erfahrung, wie auf sozialen Medien eine Kommerzialisierung erzielt wird. Entscheidend seien für die Algorithmen vier Dinge: Die «Watch-Time», also gemessen an der Zeitdauer eines Clips der prozentuale Anteil der Zeit, in der das Video effektiv geschaut wird (in seinem Fall 300 Prozent); Kommentare zulassen, insbesondere auch negative (weil diese in seinem Fall eine Mehrzahl positiver generieren); die Likes und die Shares.

«One fits all» funkioniert nicht

In die Tagung eingeführt hatte die rund 150 Lehrer:innen und Vertreter aus Bildung, Wissenschaft und Medien die Forscherin Fiona Fehlmann vom IAM. Sie erläuterte die verschiedenen Dimensionen von Nachrichtenkompetenz und deren Wechselwirkung anhand des 5C-Schemas von Tully aus dem Jahr 2022. Die damit angesprochene Komplexität, was alles Nachrichtenkompetenz umfasst, macht es für Erziehungs- und Bildungsverantwortliche nicht einfach, diese bei Jugendlichen zu fördern.

«One fits all» funktioniert dabei nicht, das wurde in einem engagiert geführten Panel zwischen dem Sekundarschullehrer Kaspar Vogel, der Gymnasiallehrerin Lea Thalmann-Truniger und dem Direktor des Berufsbildungszentrums Olten, Georg Berger, rasch deutlich. Während Thalmann im Unterricht Handy und Tablets einsetzt («bring your own device») und damit auch gute Erfahrungen macht (gleichzeitig aber auch eingesteht, dass sie angesichts der teilweise schon erreichten Mündigkeit ihrer Schüler:innen kaum Möglichkeiten sieht, den Gebrauch zu verbieten), setzt sich Vogel auch in seiner Rolle als Gemeinderat für ein Handy-Verbot ein – im Wissen um den Zielkonflikt, gemäss Bildungsauftrag digital unterrichten und bilden zu müssen.

Wenn schon findet er es sinnvoller, einen bewussten Einsatz von Digitalmedien während des Unterrichts anzustreben. Das Hervorholen und Wegräumen auch von Handys und Pads – in die Garage stellen, wie er es bezeichnete – führe zu einer stärkeren Fokussierung. Was man seiner Meinung nach nicht tun sollte, sei Jugendliche einfach sich selbst zu überlassen mit den Devices und einer Aufgabe.

Seine Schüler:innen stammten oft aus bildungsfernen Familien, erläuterte er seine Haltung. Das Handy sei für sie auch zuhause sehr häufig die einzige Beschäftigung, was auch zu einer gewissen sozialen Vereinsamung führen kann. Das macht sie u.U. anfälliger für Hassbotschaften oder Desinformations-Kampagnen. Gerade während des Gaza-Krieges seien Schüler:innen etwa auf TikTok mit problematischen einseitigen Informationen und Bildern konfrontiert, was gefährlich sei, führte der Lehrer aus. Auch habe er in Chat-Gruppen mit sexistischen oder politischen Botschaften zu tun. Er scheue sich dann nicht, persönlich auf Schüler:innen und die Eltern zuzugehen, schliesslich habe er auch einen Erziehungsauftrag. Schulische Sanktionen, etwa einen Verweis auszusprechen, sieht er dagegen als wenig wirksam an.

Thalmann wiederum unterrichtet im Kurzzeit-Gymnasium «ihre» Klasse während zwei Stunden. Für andere Lektionen sind andere Lehrer:innen zuständig. Schulstufe und -typ beeinflussen also ebenso Möglichkeiten und Grenzen, auf die Schüler:innen einzuwirken.

Berger wiederum – auch er im Kontext mit Schüler:innen, die bereits in einer Lehre stehen und älter sind – hat als Folge kritischer Medienberichte über seine Bildungsinstitution erlebt, dass Jugendliche Nachrichten durchaus reflektieren, wenn sie ein Thema direkt betrifft bzw. dieses einen Bezug zu ihrer Lebensrealität hat. Allerdings stellt auch er fest, dass es vielen Schüler:innen nicht leicht fällt, zwischen Meinung, Fakten und Interpretation differenzieren zu können.

Einig waren sich die drei, dass die Schule nicht umfassend die Förderung von Nachrichtenkompetenz schultern kann. Es brauche neben Elternhaus und Lehrbetriebe auch weitere Angebote und Unterstützung, so ihr Tenor. Dabei mangelt es Schüler:innen nicht an technischem Verständnis: Sie seien durchaus «fit», ja fitter in der Anwendungskompetenz als ihre Lehrer:innen oder Eltern, sagte Berger. Nur eben: In der Gerätebedienung schnell zu sein heisse nicht automatisch lösungs- und zielgerichtet, und schon gar nicht inhaltlich-kritisch bewertend. Bildung sei daher immer auch Reifung, findet Berger.

Plädoyer für mehr Lesefähigkeit

Der Jugendbuch-Autor und Journalist Thomas Feibel plädierte in seiner Keynote für Lesefähigkeit als neuen «Leitbegriff» in der Medienkompetenz. Dabei fasst er diesen bewusst weit: «Lesen» können man ganz unterschiedlich: linear ein Buch, wissensgetrieben ein Lexikon, interessengeleitet eine Zeitung. Aber auch Gaming oder soziale Netzwerke benötigten Lesefähigkeit – wobei diese eben nicht (nur) TikTok und Co. umfassten, sondern «echte Menschen», Freunde, Familie, Verwandte. Auch für Daten benötige man Lesefähigkeit – allein schon angesichts der Tatsache, dass im Internet so etwas wie Privatsphäre nicht mehr existiere, führte Feibel aus.

Die Diskussionen in seinem Heimatland Deutschland, wie in Österreich oder Italien bundesweit ein Handy-Verbot an Volksschulen zu erlassen, findet er wichtig und dennoch falsch geführt. Es brauche kein Verbot, sondern die Vermittlung des richtigen Umgangs mit Medien, und dies durchgängig vom Kindergarten bis zum Schulabschluss. Eben von Lesefähigkeit.

Handlungsbedarf hoch und dringend

Diesen Handlungsbedarf bejahten dann auch die Teilnehmer des zweiten Panels, die Lehrerin Ute Heckroth und die junge «YouMedia»-Mitarbeiterin Jenny Kitzka sowie der Leiter Pädagogische Arbeitsstelle des Dachverbands der Lehrer:innen in der Schweiz, Beat A. Schwendimann, und Flurin Senn, Leiter Bildung und Erziehung der PH Zürich.

Schwendimann sieht die Förderung der Nachrichtenkompetenz als dringlich an, wobei die vielen Akteure besser vernetzt werden sollten. Auch könne die Schule nicht alles leisten. «Das Elternhaus muss hier mitwirken, aber auch Behörden, die Politik, die Medien», sagte er, verbunden mit dem Wunsch, dass die Dringlichkeit erkannt werde, weil die ungefilterte Meinungsbildung immer schwieriger werde. Dem entgegenzuwirken, reichten zwei Stunden «Medien und Informatik» nicht. Medienkompetenz sei ein fächerübergreifender Bildungsauftrag – die Eingrenzung auf ein Fach wie im Lehrplan21 vorgesehen sei nicht ausreichend.

Sie habe nie einen spezifischen Medien-Unterricht genossen, gestand Kitzka. Und sie sei selbst ja irgendwie auch ein «Opfer» von sozialen Medien. Diese jedoch seien eine Realität, gerade in ihrer Altersgruppe, dafür könnten die Jugendlichen aber nichts. Sie wäre daher interessiert, kompetenter zu werden im Umgang.

Auch Senn sieht dieses Bedürfnis in der Ausbildung angehender Lehrer:innen, die ja wie Kitzka quasi zur «Zielgruppe» für die Vermittlung von Nachrichtenkompetenz gehören. Junge Studierende reflektierten ihre Mediennutzung schon, auch sei der Unterrichtsgegenstand – Medien – attraktiv, weil sehr lebensnah und von grosser individueller Bedeutung, erläuterte er. Gleichzeitig müsse man aber auch Praktiken als Lehrer:innen überdenken, die als Privatperson vielleicht logisch seien, wie etwa die Einrichtung eines Klassen-Chats auf WhatsApp. Das sei allein schon aus Datenschutzgründen nicht sinnvoll.

Schwendimann sieht hier auch das Dilemma zwischen Schutz und Teilhabe; mehr Restriktion vermindere die Fähigkeit zu partizipieren, und gleichzeitig wolle man Jugendliche vor Risiken dieser Partizipation bewahren.  Lehrer:innen wiederum müssten sich bewusst sein, ihrerseits auch eine Person des mindestens teilweise öffentlichen Interessen zu sein und immer auch ihre Schule zur repräsentieren. Einen «Onlyfan»-Account zu betreiben sei daher eher nicht zu empfehlen.

Für die an einer Berufsschule arbeitende Lehrerin Heckroth wiederum ist das Hauptproblem bei der Vermittlung von Nachrichtenkompetenz(en) der Zeitbedarf und die strukturellen Vorgaben. Mit der auf Sek-II-Stufe häufig praktizierten Devise «bring your own device» sei es für sie im Unterricht extrem schwierig zu kontrollieren, wer nun was genau auf seinem Screen tue.

Handy-Verbot wenig zielführend

Trotz dieser vielen Bedenken hielten aber auch diese Fachleute ein Handy-Verbot für eher wenig zielführend. Der Dachverband erachtet laut Schwendimann eine unterrichtsbezogene und -angepasste Nutzung für sinnvoller; das schliesse ein Nutzungsverbot für private Zwecke im Rahmen der Schulordnung nicht aus. Er mahnte dabei auch an, mindestens auf Ebene des Schulkreises einheitliche Regelungen zu erlassen, dies allein schon aus praktischen Gründen für Eltern mit mehreren schulpflichtigen Kindern.

Einig waren sich die Panelisten auch darin, dass Jugendliche zwar im Fokus stehen sollten, aber die Gesellschaft als Ganzes gefordert ist, kompetenter zu werden im Umgang mit Medien.

KI-genierte Wirklichkeiten – ad absurdum

Ein eindrückliches Beispiel, wie gut – oder eben wie schlecht – KI beim Erstellen und Verfälschen von Fotos ist, zeigte der Winterthurer Cartoonist und Illustrator Ruedi Widmer. Ausgehend von einem Aufnahme, die einen Ausschnitt der Skyline von Manhattan zeigt, transformierte er diese einem staunenden Publikum fallweise in ein venezianisches Gemälde, in eine Stadt Flanderns des 17. Jahrhunderts, in Zürich oder in Marrakesch, dann wieder in einen Friedhof oder in eine Auslage von Parfümflakons. Ja selbst eine Häkeldecke oder eine IKEA-Möbellandschaft konnte er mit wenigen Prompts im Programm Midjourney generieren, immer das «Original» bewahrend bzw. dessen Kernelemente – die Wolkenkratzer Manhattans – nutzend. Das Ergebnis war so verblüffend wie irritierend: Unser Gehirn wandelt optische Eindrücke um und verfestigt sie zu einer neuen Wahrheit. Objektivität und Realität wandeln sich innert weniger Minuten, die Ratio wird übertölpelt.

Und doch gab sich Widmer getröstet, er, der laut seinen Worten bei Aufkommen erster KI-generierter Bilder unruhig geworden sei, weil er um seinen Brotjob gefürchtet habe: «Auch wenn die Qualität besser wird; KI-generierte Bilder sind erkennbar.» Wohl auch, mag man hinzufügen, weil das Ergebnis derart absurd ist.

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