Demokratie zum Anfassen: An der Urne entscheidet die Bevölkerung mit, aber ohne Zugang zu Nachrichten fehlt die Grundlage für informierte Entscheide. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Linards Udris: Was bedeutet eigentlich News-Deprivation?
News-Deprivation bedeutet eine Unterversorgung mit Nachrichten, also dass eine Person sich nicht oder nur sehr wenig in Medien – egal ob soziale oder traditionelle Medien – über das aktuelle Geschehen informiert. Die „Unter“-Versorgung machen wir auch daran fest, dass empirisch diese Gruppe der „News-Deprivierten“ deutlich weniger Nachrichten konsumiert als die anderen fünf typischen Nutzergruppen, die es in der Schweiz gibt.
Was sind die Hauptgründe dafür, dass viele Menschen den Nachrichten fernbleiben?
Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Erklärungen. Die erste ist, dass die Menschen die Nachrichten aktiv vermeiden. Diese aktive Vermeidung kommt oft dadurch zustande, dass die Leute die Nachrichten für zu negativ halten oder dass sie mit den Nachrichten nichts anfangen können. Die zweite ist, dass die Leute eher unbewusst kaum Nachrichten nutzen. Unbewusst deshalb, weil die Menschen sich in diesem Fall nicht aktiv „gegen“ eine Mediennutzung entscheiden, sondern weil in unserem hektischen Alltag und der digitalen Medienwelt viele andere Inhalte als Nachrichten einen grösseren Stellenwert haben. Jemand, der oft auf sozialen Medien unterwegs ist, trifft dort nicht unbedingt journalistische Inhalte an, und man nutzt die sozialen Medien auch nicht in erster Linie dazu, um sich zu informieren, sondern um sich mit Freunden auszutauschen oder um Unterhaltungsformate zu konsumieren. Das heisst, in unserem digitalen Medienumfeld gibt es einen „Verdrängungseffekt“. Dazu kommt noch, dass sich offensichtlich viele Menschen nicht oder nur wenig für Nachrichten – und für Politik – interessieren.
Warum ist es eine Bedrohung für die Demokratie, wenn die Bevölkerung keine Nachrichten konsumiert?
Vorausschickend möchte ich zur besseren Einordnung sagen, dass wir in der Schweiz noch immer in einer ziemlich guten Situation sind, was die Qualität der Demokratie betrifft. Es ist trotzdem so, dass dieser Trend einer zunehmenden News-Deprivation problematisch ist. Denn wir sehen in unseren Daten, dass Menschen, die wenig Nachrichten konsumieren, letztlich deutlich weniger eingebunden sind. Sie wissen signifikant weniger Bescheid über aktuelle Ereignisse, sie vertrauen den Medien und der Politik weniger, sie beteiligen sich weniger am politischen Prozess und sie haben einen weniger ausgeprägten demokratischen Gemeinsinn.
Wie würden sie versuchen jemanden zu überzeugen wieder Nachrichten zu lesen?
Wenn wir etwas gegen die News-Deprivation tun wollen, müssen wir auf mehreren Ebenen ansetzen. Erstens können wir in den Schulen mehr in Medienkompetenz und politische Bildung investieren – übrigens wäre das auch wichtig für Erwachsene. Zweitens können die Medien versuchen, in ihrer Berichterstattung mehr „konstruktiven“ Journalismus betreiben. Das heisst nicht, dass sie vor allem positive Nachrichten zeigen sollen. Es heisst, dass sie grundsätzlich stärker versuchen sollen, einzuordnen und Lösungswege aufzuzeigen. Und Medien sollten die sozialen Medien noch stärker auf eine Art bespielen, dass sie dort die Nutzer:innen im wahrsten Sinne des Wortes „abholen“ und wieder zurückbringen auf die eigenen digitalen Kanäle, zum Beispiel die Apps. Drittens müssen wir Wege finden, wie wir als Gesellschaft die Medien öffentlich fördern können, zum Beispiel mit mehr Unterstützung für die Infrastruktur von Medien. Und viertens sollten wir die Tech-Plattformen stärker in die Pflicht nehmen. Dazu gehört unter anderem ein Leistungsschutzrecht oder ein angepasstes Urheberrecht, damit die Leistungen des Journalismus fairer vergütet werden können. Dazu gehören auch Überlegungen, zum Beispiel in Skandinavien, ob man auf Plattformen gleichsam einen „Mindestanteil“ an Journalismus festlegen kann, so wie man das seit Jahrzehnten beim öffentlichen und beim konzessionierten privaten Rundfunk macht.
Welche Entwicklungen stimmen Sie optimistisch – trotz aller Herausforderungen? Der Journalismus in der Schweiz hat ein Reichweitenproblem, aber kein grundsätzliches Qualitätsproblem. Es gibt immer noch relativ viele gute, seriöse und professionell gemachte Angebote. Und was mich positiv stimmt: In einer Auswertung haben wir gesehen, dass Menschen, die schon mal Schulungen oder Trainings im Bereich Medienkompetenz hatten, eher bereit sind, für Online-Nachrichten zu bezahlen. Das ist ein kleines, aber ermutigendes Zeichen, dass wir es gemeinsam schaffen können, den Wert des Journalismus für eine demokratische Gesellschaft wieder stärker zu verankern.